Wieso wir uns auskennen, aber uns selbst nur ungern als Expert*innen bezeichnen
How to call yourself: Sachkundig? Fachmensch? Branchenzugehörig mit Know-how? Ja. Expert*in? Nein. Klar und deutlich, laut und bestimmt.
Überall sprießen sie aus dem Boden: Die Expert*innen. Ich kann es nicht mehr hören und noch weniger lesen, in den ganzen Instagram-Bios der Coaches, Trainer*innen, selbsternannten Profis und eben Expert*innen. Is this going to be a rant? Maybe. Not really. Vielleicht eher eine Momentaufnahme und ein Kommentar. Eine Erklärung, wieso ich nicht als Expertin bezeichnet werden möchte, wir bei merkenschoenberg niemanden intern so bezeichnen und die Begrifflichkeiten auch rigoros aus Präsentationen streichen.
Gerade wenn wir, vorrangig Marvin und ich, auf Panels sprechen, Vorträge halten, Workshops geben, werden wir gern als Social-Media-Expert*innen anmoderiert. Wir versuchen das zu unterbinden. Aus mehreren Gründen:
Expert*in ist ein Begriff, der nicht geschützt ist. Deswegen nennen sich so nicht nur Menschen und Persona aus Branchen, die wirklich Ahnung haben. Sondern vor allem in den letzten Jahren auch Scharlatane, Möchtegern-Fachleute, halbseidige, aber ambitionierte Businessmenschen. Bei LinkedIn bekomme ich jede Woche etliche Anfragen von selbsternannten Coaches und Expert*innen, die mich angeblich empowern wollen, mir zeigen möchten, wie gutes Business, perfektes Mindset, der Weg in meine Mitte funktioniert. Und wie ich mit möglichst wenig monetärem Einsatz, richtig gute Reichweite erreichen und erfolgreich werden könne. Also neben den Anfragen, die von Personen kommen, die LinkedIn mit einer Singlebörse verwechseln.
Ich kenne mein Bauchgefühl bei solchen „Expert*innen“. Weiß und kenne aus regem Austausch auch das Bauchgefühl und die Assoziation vieler Kolleg*innen, die und deren Können ich sehr schätze. Und ich will nicht mal von einer einzigen Person in meinem beruflichen oder privaten Kosmos damit assoziiert werden oder das gleiche Gefühl provozieren.
Ein weiterer Grund? Ein Beispiel. Wir sind vor allem als Social-Media-Expert*innen deklariert. Wir kennen uns mit Social Media aus. Gut. Besser als Viele. Bis ins kleinste Detail. Social Media ist ein Teil unserer ID, ein noch größerer Teil unserer Arbeit. Bis in JEDES Detail? I doubt it. Genau dieses Feld, in dem wir arbeiten, ist so volatil, so dynamisch, so schnell, dass man kaum Expert*in sein kann.
Jeden Tag ändern sich rechtliche Rahmen, Plattformen selbst führen Neuerungen ein, Algorithmen ändern sich. Man kommt selbst als jemand, die*der extrem nah an und tief in der Materie ist, manchmal kaum hinterher.
Und ja, es gibt für mich sicherlich noch Unterschiede zwischen den Kolleg*innen und Personen, die in dem Bereich eher in der Forschung stecken und denen, die in der Operativen und damit in der praktischen Anwendung sind. Dennoch: Ein*e Expert*in weiß – für mich persönlich – gefühlt alles von einem und über ein Thema. Trotz aller Weiterbildungen, daily Doings, Erfahrungswerte, den Austausch und auch das Erarbeiten neuer Kompetenzbereiche, gibt es doch in jedem Bereich eigentlich immer jemanden, die*der es besser weiß. Wer das nicht ist? Die*der 700. selbsternannte Coach. Die nächste Person, die mit einem privaten Instagramprofil ein paar zehntausend Follower*innen hat, deswegen vermutlich gut in Content ist, aber die anderen Parameter nicht kennt. Die, die mir auf LinkedIn die 100. Anfrage mit dem Versprechen auf maßlose Erfolge schicken. Um sich Expert*in nennen zu können, muss man mehr als das. Ein*e Expert*in muss sich meiner Ansicht nach sicher sein, dass es in ihrem*seinem Bereich und Nische nur eine überschaubare Zahl an Personen gibt, die genau das gleiche Wissen haben und teilen können. Dass sie*er den Großteil der Fragen, die ihr*sein Segment betreffen, ad hoc beantworten können. Und so nah am Trendforecast sind, dass sie immer, immer up-to-date sind. Am Puls der Zeit. Nicht allwissend – aber wissend. Und sich selbst aneignend.
Will ich einen Social-Media-Expert*In daran messen, dass sie sämtliche Meta Blueprint Zertifizierungen hat? Sicherlich nicht nur (auch wenn ich das ans Herz lege, vor allem denen, die sich gern selbst so bezeichnen). Aber ich messe an Reflektiertheit und an dem Wissen ob Selbstoptimierung und Fortbildung. An Wissenstransfer aus Theorie in Anwendung. Als Germanistin auch ein bisschen daran, dass ich finde in DE sollte man langsam wissen, dass sowohl Social-Media-Expert*in als auch Social-Media-Kanal im Deutschen mit Bindestrich geschrieben wird.
Und wer sich jetzt denkt, häh, aber soll sie die doch lassen, die ganzen selbsternannten Expert*innen. I do. Aber es triggert mich immer wieder. Und es ist auch ein gut gemeinter Rat, an die, die nachkommen. Von eine*r Expert*in erwarte ich ein Maß an Fachwissen und Erfahrung, das allumfassend in dem gewählten Bereich ist. Bleiben wir beim Thema Social Media. Ich erwarte, dass jemand, der in dem Bereich arbeitet, auch wenn er zum Beispiel den Kreativpart macht, Ahnung von den Grundlagen des Advertisings hat und sich auch mit Plattformen auskennt, die nicht zu ihren*seinen Favoriten gehören. Dass sie*er berät mit Know-how und bis zu einem gewissen Maße auch neutral. Und das erwarten Viele. Ich kann mich gut daran erinnern, wie ein*e so genannte Expert*In eine*r Kund*in mal mit in einem Brainstorming saß und wir schnell gemerkt haben, dass ihr*ihm neben dem passenden Vokabular auch die Thementiefe fehlte. Fun fact: Andere Menschen mit Know-how merken schnell, ob ein*e Expert*In wirklich eine ist. Deswegen treten die Instagram-Bio-Coaches und LinkedIn-Trainer*Innen ja so gern an Menschen ohne tiefes Know-how heran.
Woran ich hier plädiere? An den gesunden Menschenverstand. Und auch daran, vielleicht als Dienstleister*In mal genau zu überlegen, wie man sich selbst definiert und bezeichnet. Und in dem Kontext auch ruhig mal Kund*Innen nahelegt, einen selbst mit der richtigen Bezeichnung vorzustellen oder anzukündigen. Zeigt Selbstreflektion und durchdachtes Selbstmarketing. Und das gehört zu Menschen, die gut sind, eben dazu.
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