Die toxische Verwendung von toxisch

Wenn eine Begrifflichkeit, die eigentlich sinnig ist, fehlgebraucht wird

 
Der Begriff toxisch trifft den Nerv der Zeit – er rückt problematische Strukturen und Menschen in die Mitte der Gesellschaft und verhilft missbräuchlichen Beziehungssystemen in Beziehungen oder am Arbeitsplatz zu mehr Sichtbarkeit. Mit dem Begriff lässt sich aber auch wunderbar herrlich ausdrücken, was vielleicht eigentlich eher „blöd“, „zweifelhaft“ oder „nervig“ ist. Und das wiederum ist ziemlich problematisch – um nicht zu sagen toxisch – itself.
 

Es gibt wohl kaum einen Artikel über den ursprünglich aus der Medizin stammenden Begriff toxisch, der nicht mit einer Referenz an den 2003er-Banger von Britney Spears einleitet. Und auch ich muss bei dem Wort oft unweigerlich an das ikonische Musikvideo denken, in welchem Britney im Hauch eines Flugbegleiterinnen-Outfits verführerisch in die Kamera starrt, während sie dabei einem Fluggast ein Getränk über den Schritt schüttet. Musikalisch untermalt wird die Szene von mehr gesäuselten als gesungen Worten, die von dem ekstatischen und gleichzeitig lähmenden Gefühl in einer ungesunden Beziehung handeln: „I’m addicted to you. Don’t you know that you‘re toxic?“

 

Sichtbarkeit für problematische Strukturen

Auch wenn weder wir noch Britney es damals erahnen konnten, hat sie mit „Toxic“ die inoffzielle Hymne für eine Generation kreiert, in der intime problematische Beziehungsstrukturen und die mentale Gesundheit so offen thematisiert werden wie in keinem Jahrhundert zuvor. Hatte der Begriff zu Britneys Flugbegleiterinnen-Zeiten für mich noch einen beinahe exzentrischen Charme, findet er heute im Sprachgebrauch meiner Umwelt irgendwie organisch statt. Das Wort ist so populär geworden, dass das Oxford Dictionary es 2018 sogar zum „Wort des Jahres“ gekürt und ihm eine besondere kulturelle Bedeutung zugesprochen hat.

 

Beziehungen oder die sich darin befindenden Personen als toxisch zu deklarieren, ist in den letzten Jahren nicht nur immer populärer geworden, sondern der Begriff selbst ist längst zum Modewort avanciert: Kaum ein Gespräch oder ein geschriebener Text über problematische Personen und Beziehungsstrukturen kommt noch ohne diese Charakterisierung aus – und ich bin überzeugt davon, dass das in erster Linie auch ziemlich gut ist. Weil es missbräuchlichen Beziehungssystemen zu mehr Sichtbarkeit verhilft. Weil viele Menschen damit eine Beschreibung für etwas gefunden haben, was für sie lange nicht beschreibbar – und viel zu oft nicht einmal erkennbar war. Und weil viele Menschen sich nur von einem Problem befreien können, wenn es gesellschaftlich überhaupt als eines anerkannt wird.

 

Von der ernsten Gefahr zur inhaltslosen Floskel

Gleichzeitig habe ich das Gefühl, dass diese Hyperpopularisierung und die inflationäre Verwendung des Begriffs dem Wort mehr und mehr seiner ursprünglichen Bedeutung entziehen: Eine fehlende offizielle Definition und vielschichtige als toxisch geltende Verhaltensmuster beflügeln diesen Prozess. Und während toxisch im therapeutischen Vokabular grob gesagt dysfunktionale Beziehungen mit ernsthaften missbräuchlichen Strukturen bezeichnet, avanciert das Wort in der Umgangssprache immer mehr zu einer inhaltslosen Floskel.

 

Newsletter von Unternehmensbewertungsplattformen titeln „Vier Anzeichen für ein toxisches Arbeitsumfeld“. Wir haben toxische Freund*innen, daten toxische Menschen, leben in toxischen Familienverhältnissen und arbeiten in einem toxischen Arbeitsumfeld. Wenn ein Tinder-Match nicht direkt nach dem ersten Date zurückschreibt, ist das mittlerweile direkt eine Red Flag (und das ist ja bekanntlich der Vorbote von toxisch). Wenn Menschen sich in ihrem Arbeitsumfeld nicht wohlfühlen, vielleicht weil sie mit ihren Aufgaben überfordert sind oder ihre Vorgesetzten einfach nicht mögen, wird der*die Arbeitgeber*in ziemlich schnell als toxisch abgestempelt. Und honestly, auch ich habe schon beim Gespräch mit Freund*innen vorschnell gemeint, toxische Züge im Verhalten von deren Partner*in zu erkennen – auch wenn ich denkbar wenig über die Person wusste. Einfach weil toxisch irgendwie grade gut gepasst hat, weil das Wort ohnehin oft nur noch als Synonym verwendet wird für Dinge, die allenfalls „seltsam“, „blöd“ oder „nervig“ sind.

Freches Verhalten ist nicht gleich systematischer Missbrauch, wie die Journalistin Julia Lorenz in ihrem Essay „Ist das toxisch oder doch nur scheiße?“ deutlich macht. Das stimmt – und der leichtfertige, inflationäre Umgang mit dem Begriff ist meiner Meinung besonders aus drei Gründen ziemlich problematisch.

Die berühmte Kehrseite der Toxic-Medaille

Verhaltensweisen und Strukturen sofort als toxisch zu deklarieren, schafft wenig Raum, das eigene Verhalten zu reflektieren und zu überdenken. Viel Raum hingegen bleibt für Verunsicherungen und eingeengte Sichtweisen. Wenn ich zum Beispiel meine*n Arbeitgeber*in sofort als toxisch bezeichne, ohne mir Gedanken über meinen potenziellen Eigenanteil an der Problematik zu machen, rücke ich das Thema schnell auf eine Art unantastbares Podest, das ich einfach mit diesem magischen Wort versiegle. Aber natürlich ist nicht jedes Arbeitsumfeld, in dem ich mich nicht wohlfühle, direkt toxisch – genauso wenig wie nicht jede unglückliche Beziehung immer aus toxischen Verhaltensweisen resultiert. Vielleicht bin ich einfach nicht für die Stelle geeignet und vielleicht sind die Ansichten von meinem Partner und mir einfach zu unterschiedlich.

 

Leichtfertig eine Person oder eine Arbeitsstelle als toxisch zu bezeichnen, kann außerdem ernsthafte Konsequenzen für Menschen mit sich bringen. Das Wort hat aufgrund seiner Popularität eine enorme Schlagkraft und das Label toxisch kann – auch wenn es leider oft inhaltslos ist – Menschen wie ein Schatten verfolgen. Wer einmal jemanden als toxisch bezeichnet, hinterlässt bei den Zuhörenden unweigerlich einen säuerlichen Beigeschmack: ob die Person tatsächlich toxisch ist oder nicht.

 

Besonders problematisch ist aber, dass der inflationäre Gebrauch des Begriffs das konservative Bild von psychischen Krankheiten als Modeerscheinungen nährt. Und das wiederum kann das Leid von Menschen relativieren, die wirklich in ernsthaften missbräuchlichen Strukturen gefangen und körperlich oder seelisch von etwas oder jemandem abhängig sind. Es kann das Leid von Menschen relativieren, die so dolle Herzklopfen haben, wenn sie auf dem Weg zur Arbeit sind, dass sie das Gefühl haben, es zerreißt ihnen den Brustkorb. Menschen, die am Arbeitsplatz mit so negativen Bedingungen konfrontiert sind, dass jeder weitere Arbeitstag sie mental zerstört. Menschen, die von ihren Partner*innen mit ständiger Kritik und Schuldzuweisungen so lange erniedrigt werden, bis sie ernsthaft anfangen, zu glauben, dass sie selbst die Wurzel allen Übels sind. Das sind die Menschen, die wir sehen und denen wir zuhören müssen – und für die wir dem Wort toxisch wieder Bedeutung beimessen müssen.